Im Porzellanikon in Selb steht Geschichte nicht einfach nur hinter Glas. Das Museum ist das größte Porzellanmuseum Europas, untergebracht in ehemaligen Rosenthal-Fabrikgebäuden, in denen Besucher normalerweise Porzellandesign, Produktion und das Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter in klassischen Ausstellungen, Live-Demos und Workshops entdecken.
Mit dem interaktiven, gamifizierten 3D-AR-Erlebnis „Fenster in die Vergangenheit“ verwandeln das Museum und ZAUBAR diesen historischen Fabrikkomplex in eine begehbare, erzählerische Tour. Besucher bewegen sich mit einem Tablet oder ihrem eigenen Smartphone über das Gelände, schalten Stationen frei, lösen kleine Aufgaben und sehen, wie die Fabrik der 1920er-Jahre direkt über den heutigen Ruinen wieder aufersteht.
Ein Schritt ins Jahr 1929
Die Reise beginnt im Windfang, der kleinen Eingangshalle. Das Museumsteam händigt ein vorkonfiguriertes Tablet aus, oder die Besucher öffnen die vom ZAUBAR-System betriebene Porzellanikon-App auf ihrem eigenen Gerät. Ein Scan später sieht der ruhige Hof draußen auf dem Bildschirm plötzlich ganz anders aus: Züge rollen mit Kohle und Kaolin ein, Schornsteine rauchen, Arbeiter eilen über den Platz.
Von diesem Moment an ist das Gerät zugleich Zeitmaschine und Kompass. Die Gäste können in den Fabrikhof und die Produktionshallen eintauchen oder sich in Richtung der Arbeiterwohnhäuser treiben lassen. Wo auch immer sie sich befinden, werden AR-Szenen exakt an der richtigen Stelle eingeblendet: Ofenhäuser wachsen wieder auf ihre volle Höhe, unsichtbare Innenräume werden sichtbar, längst verschwundene Räume erscheinen als 3D-Szenen mit Ton und Dialog, die sich an der erhaltenen Architektur orientieren. Die Tour ist selbstgeführt – sie fühlt sich weniger wie eine feste Route an und mehr wie ein Spaziergang durch einen Graphic Novel, der an einem realen Ort verankert ist.
Rosenthal, Martha und das Leben in der Fabrik
Zwei AR-Charaktere begleiten die Besucher: Philipp Rosenthal senior, der ehrgeizige Fabrikbesitzer, und Martha, eine Bohlen tragende Porzellanarbeiterin mit spitzer Zunge.
Rosenthal erzählt stolz von moderner Infrastruktur, privaten Bahnanschlüssen, effizienten Öfen und den „sozialen“ Werkswohnungen, die er geschaffen hat. Martha zerlegt diese Version der Geschichte leise, indem sie auf enge Arbeiterwohnungen hinweist, auf Mieten, die direkt vom Lohn abgezogen werden, und auf die ständige Angst, gleichzeitig Job und Zuhause zu verlieren. Am Pförtnerhaus erscheint eine Stechuhr in AR, und der Arbeitstag wird plötzlich gnadenlos exakt: Wer zu spät kommt, verliert Lohn und wird vermerkt. Am Porzellanscherbenhaufen, dem Scherbenhaufen, zeigt die Tour in einem Bild, was Akkordarbeit bedeutete: Ein einziger gesprungener Teller – und eine ganze Kette von Beschäftigten geht leer aus.
Das Finale findet an den Ruinen eines Rundofens statt. Ein niedriger Ring aus Ziegeln auf dem Boden wird in AR zu einem gewaltigen 3D-Ofen. Ein virtueller Brennmeister führt die Besucher durch die einzelnen Brennphasen, Temperaturen und den Arbeitsaufwand hinter jeder Charge. Man steht in der Gegenwart, aber der Bildschirm besteht darauf, dass man mitten in einer glühenden Industriemaschine des Jahres 1929 steht. Kleine In-App-Spiele und Quizfragen entlang des Weges machen aus Zuhören aktives Handeln, während Selblinge – winzige AR-Porzellangeister – auftauchen, gesammelt werden können und die Neugierigen mit zusätzlichen Geschichten und Details belohnen.
Was ZAUBAR dafür gebaut hat
Hinter den Kulissen hat ZAUBAR eine mehrstufige, ortsbasierte AR-Ausstellung entwickelt, die langfristig über das gesamte Fabrikgelände läuft. Die Inhalte werden über die Porzellanikon-App und die ZAUBAR-AR-Plattform ausgespielt, die 3D-Rekonstruktionen, animierte Avatare, Audioguides und interaktive Logik steuert. Die AR-Szenen werden mithilfe visueller Positionierung und leichter Trigger so verankert, dass an jedem Tor, Gleis, Ofenhaus oder Scherbenhaufen zuverlässig die richtige Szene erscheint – Tag für Tag.
Barrierefreiheit und Flexibilität standen im Zentrum des Konzepts. Das Erlebnis läuft auf Museumstablets oder auf den eigenen iOS- und Android-Geräten der Besucherinnen und Besucher, auf Deutsch und Englisch, mit Untertiteln und Audiotonspur. Das Museumsteam kann Inhalte über das Backend von ZAUBAR aktualisieren und Details anpassen, ohne die App neu bauen zu müssen – die AR-Ebene wird so zu einem dauerhaften Storytelling-Werkzeug statt zu einer einmaligen Showeinlage.
Warum diese Art von AR wichtig ist
„Fenster in die Vergangenheit“ geht weit über das bloße Platzieren eines 3D-Modells an der richtigen Stelle hinaus. Das Erlebnis stellt sich einer grundlegenden Herausforderung, die viele Kulturerbestätten kennen: Wie lassen sich Abläufe, Stimmungen und Machtverhältnisse vermitteln, die im Raum selbst nicht mehr sichtbar sind?
Indem Besucher in einer stillen Ruine stehen und sie gleichzeitig voller Rauch, Hitze und Menschen sehen, macht die AR-Tour die Vergangenheit der Fabrik auf eine Weise greifbar, wie es Texttafeln selten schaffen. Und indem sie einem stolzen Fabrikbesitzer eine kritische Arbeiterin gegenüberstellt und das Ganze in Spiele, Quizfragen und Selblinge einbettet, hält sie das Publikum lang genug bei der Stange, damit die feinen Zwischentöne ankommen – und lässt Menschen die Vergangenheit fühlen, statt nur über sie zu lesen.
.webp)



.webp)


